[Tränen des Mondes] Kapitel 2

Donnerstag, 10. März 2016

 
Sie schrak aus dem Schlaf. Ihr Atem ging unruhig und ihr war kalt. Zitternd schlugen ihre Zähne aufeinander, während kalter Schweiß sich auf ihrer Haut perlte. In ihr rumorte es. Dieser Traum. Immer wieder dieser eine Traum. Das erste Mal hatte er sich ihr im Alter von sieben Jahren offenbart. Vorher hatte sie nie etwas im Schlag gesehen. Hatte nicht einmal gewusst, was das war, das Träumen. Gewiss, sie hatte bereits davon gehört, sich aber nie vorstellen können, was dies wirklich war. Und fragen kam nicht in Frage. Sie war alleine, niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Was sollte sie da schon träumen. Einsamkeit, dies allein hatte ihr Leben bestimmt. Trotz Marthas Liebe war sie einsam, schon immer gewesen. Sie wusste nicht wer sie war. Welchen Platz sie in der Welt haben sollte. Und dann kam der Traum. So hell. So realistisch. So beängstigend.

Lea wusste, dass es ein Traum gewesen war. Und gleichzeitig wusste sie, dass es nicht nur ein Traum gewesen sein konnte. Ihre Beine waren nass, aber nicht nass vor Schweiß, sondern nass von Regenwasser und Tau. Sie konnte es riechen. Es gehörte nicht in ihr Bett. Genauso wenig wie der Dreck in ihr Bett gehörte. Feuchter, lehmiger Erdboden war auf ihrem Laken verschmiert. An ihrem Nachthemd hingen kurze, graue Haare. Solche, wie sie Hunde verlieren. Oder eben ein Wolf.
Zu scharf waren die Erinnerungen an den Traum, zu genau für gezeichnete Bilder. Lea argwöhnte, dass dies kein Traum war. Es war nicht anders zu erklären. Das Wasser, der Dreck, die zerkratzte Haut. In jener Nacht hatte sich etwas verändert, aber Lea hätte nicht genau sagen können was.
Danach hatte sie den gleichen Traum fast jede Nacht gehabt. Und diesmal waren die Bilder wirklich nur Träume gewesen. Niemals wieder hatte sich Regenwasser oder Dreck in ihrem Bett gesammelt . Es war nur noch ein Traum, ein einfacher Traum.
Vorsichtig schlug Lea die schweißnasse Bettdecke zur Seite und schwang ihre Beine aus dem warmen Bett. Nur mit ihrem Nachthemd bekleidet fror sie in der kühlen Nachtluft. Der Boden unter ihren nackten Füßen war hart und kalt. Raue Fasern kribbelten an ihren Fußsohlen und verstärkte die Gänsehaut auf ihren Armen. Vollkommen unbewusst wünschte sie sich ein warmes Fell  und ein angenehmes warmes Kribbeln breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Kurz schien sie die Kontrolle zu verlieren, dann sog sie scharf Luft durch ihre Nase ein und kämpfte gegen ihren eigenen Willen an um nicht ihr Innerstes zu entfesseln. Mit einiger Kraft gelang es ihr dann jedoch den Kampf zu gewinnen. Mit einem kurzen Kopfschütteln löste sie sich ganz von ihren wölfischen Gedanken und ihre Eckzähne blitzten kurz hervor. Eckzähne, die nur minimal länger waren als die eines normalen Menschen, aber doch so lang, um den einen oder anderen schiefen Blick auf sich zu ziehen. Denn die althergebrachten Legenden von  Vampiren und Werwölfen waren den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen. Doch Lea wusste, was sie war, sie war weder Vampir noch Werwolf, sie war etwas völlig anderes. Sie war eine Feach. Sie wusste, was und wer sie war. Denn auch Leandriis war nicht der Name, der ihr von den Menschen gegeben worden war, diesen Namen hatten ihr einst die Wölfe gegeben. Am Anfang hatten die Menschen versucht, ihr einen neuen Namen zu geben. War Leandriis doch schließlich einer der alten, unheimlichen Namen, der aus einer tiefen und dunklen Legende stammte. Wynter, dies war der Name, den die Menschen für sie hatten benutzen wollen. Doch Lea hatte sich instinktiv dagegen verschlossen. Keine Reaktion folgte je auf die Nennen Wynter. Erst als Martha sich erbarmte und sie Lea nannte, veränderte sich ihr Verhalten. Dieser Name war nicht so abscheulich und mysteriös wie Leandriis und die meisten konnten sich dazu durchringen ihn auszusprechen. Nicht, dass jemals viele Bewohner des Dorfes mit Lea redeten oder auch nur über sie gesprochen hätten. Die meiste Zeit war das Mädchen einfach Luft für sie, existierte nicht. Die Menschen gingen ihr aus dem Weg. Kurze Blicke streiften sie, wurden jedoch sofort wieder abgewandt, wenn sie ihrerseits zurück sah. Tuscheln das konnten die Leute, aber nur in der sicheren Gesellschaft. Sonst würde nicht ein Wort über sie fallen, zu sehr hatte sich die Furcht in ihre Herzen eingenistet. Doch sofern sie sich in einer Gruppe waren, redeten sie schlecht über sie und zogen über sie her. „Dämondenmädchen, Teufelskind“ und andere Bezeichnungen säumten ihren Weg. Und dies waren noch nicht einmal die schlimmsten Bemerkungen. Am Anfang hatte sie es noch verletzt, weil sie nicht anders hatte sein wollten. Hatte geweint, sich vor Zorn verzerrt und vor Einsamkeit zerfressen. Und dann war der Traum gekommen. Der Traum, der ihr gezeigt hatte, was und wer sie wirklich war. Erst danach hatte sie angefangen, es nicht mehr an sich heran zu lassen. Hatte ihr Herz in eine schützende Hülle voller Gleichgültigkeit verschlossen. Lea fing an in ihrer eigenen Welt zu leben. Sie war nicht auf die Gesellschaft der Menschen angewiesen, die sie nicht mochten. Die wenigen Menschen, die Lea kannte und die ihr freundlich gesinnt waren, sah sie nur selten. Aber das war ihre Welt.
Wie das kleine Mädchen, welches immer ein kleines Mädchen bleiben wird, dachte Lea. Sie hatte ähnliche Probleme wie Leandriis selbst, weil sie nicht normal war. Zooey, so ihr Name, war süß. Süß wie eine kleine Puppe. Lange, gewellte blinde Haare umrandeten ihr zierliches Gesicht, tiefblaue Augen leuchteten auf heller Haut, die wie Porzellan schimmerte. Zooey wurde von ihrer Mutter abgöttig geliebt und wie eine zerbrechliche Glasfigur gehandelt. In Zooey hatte Lea für kurze Zeit eine Gleichgesinnte gefunden, da die Dorfbewohner das kleine Mädchen genauso abschätzig behandelten wie sie. Doch bald schon hatte Zooeys Mutter ihr den Umgang mit dem Mädchen verboten. Sie wachte nun mit Argusaugen über ihre Tochter und ließ niemanden an sie heran. Lea schon gar nicht, dieses Dämonenmädchen. Vollkommen abgeschottet hatte sich die verrückte Frau und verhätschelte ihre Tochter, die immer kränker und schwächer wurde. Dann, von einer Nacht auf die andere, waren beide verschwunden. Niemand wusste wohin. Und niemand hatte je wieder von ihnen gehört oder sie gesehen. Einige Zeit wurde intensiv nach den beiden gesucht, aber nach und nach kehrte das Leben in seine normalen Bahnen zurück und Mutter und Tochter waren bald schon vergessen.
Und dann war da ja noch der alte Mann, der in einer kleinen Holzhütte mitten im Wald lebte. Niemand wusste wie alt dieser Mann wirklich war. In jedermanns Erinnerung war er schon immer da gewesen. Er musste uralt sein. Noch jemand, den die Dorfbewohner fürchteten. Er kam nur selten in Dorf und kaufte Lebensmittel und andere lebenswichtige Dinge ein, die er nicht selbst herstellen konnte, um dann wieder für ein ganzes Jahr im Wald in seiner Hütte zu verschwinden. Niemand hatte je seine Hütte betreten, niemand außer Leandriis. Sie war der einzige Gast, den die Kate je beherbergt hatte. Sie war größer als es von draußen den Anschein hatte. Sauber, reinlich und ordentlich. Keine unnötigen Dinge standen herum. Der Wohnraum enthielt nur einen Kamin, einen großen Sessel und ein schmales Bett. Das einzige was hier verschwenderisch wirkte, war ein riesiges, mehrstöckiges Regal, randvoll mit Büchern beladen. „Bücher sind Früchte des Geistes, sie hauchen dem Raum Seele ein“, pflegte der Alte zu sagen.
Von ihm hatte Leandriis in einsamen Stunden lesen und schreiben gelernt. Und auch das Zählen sowie viele andere Dinge. Dinge, die ein einfaches Bauernmädchen, als das sie aufwuchs, niemals gelernt hätte. Doch dieser Mann lehrte Leandriis Dinge, die für sie schier unglaublich waren. Als Feach war sie mit einer gewissen Grundintelligenz zur Welt gekommen, aber so etwas hatte sie noch nie gesehen. Er war auch der Einzige, der sie Leandriis nannte. Nicht Lea und auch nicht irgendwie anders, sondern einfach Leandriis. Für ihn schien dieser Name nicht mit dem Makel der alten Furcht behaftet zu sein, für ihn war es einfach ihr Name. Zudem hatte er eine unglaubliche Geduld mit ihr und wurde nie böse oder schrie sie an. Lea fühlte sich bei ihm wohl. So wohl wie selten in der Gesellschaft von anderen Menschen. Nur ihre Pflegeeltern mochten es nicht, wenn sie sich bei dem „alten Kauz“ herumtrieb, wie sie es ausdrückten. Nie nannte ihn jemand beim Namen. Es schien auch niemand zu wissen wie er hieß. Nicht einmal Leandriis wusste es. Trotz Marthas Ermahnungen machte sie sich jeden Tag die Mühe und folgte dem Waldweg bis zu seiner Hütte. Denn dort wollte sie sein. Im ruhigen, duftenden Wald mit seinen tausend Eindrücken und beim alten Mann, der sie all die tollen Sachen lernte. Das war ihre Welt und diese konnte ihr niemand nehmen. Dies zumindest war ihre tiefste Überzeugung.

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